997 Das Wunderkraut

Ein ganzes Kapitel in Ruth Blums Buch “Blauer Himmel, grüne Erde” ist den Kräutern gewidmet. Wir befinden uns chronologisch in der Mitte des 20. Jahrhunderts, die soziale Gruppe sind die Weinbauern des Ortes. Da wird noch viel vom Hexenwerk der alten Kräuterweiber spürbar.

Es ist das Refugium der Grossmutter und ihrer Hausmittel, in das wir eingeführt werden. Ihr Wissen beruht auf sgn. Volksweisheit, welche noch zusätzlich durch ein altes Arzneimittelbuch aus dem 19. Jahrhundert gestützt wird.

Neben der Tür befand sich Grossmutters Kräuterkammer, ein kleines düsteres Verlass mit vergittertem Fenster. Hier reihten sich auf schmalen Gestellen an die dreissig sauber beschriftete Bleckbüchsen aneinander, angefüllt mit getrockneten Heilkräutern, Blüten und Wurzeln. Auf der Etikette war meistens vermerkt, wozu die betreffenden Pflanzen nützlich waren. Man konnte es da in den steilen, scharfwinkligen Zügen der alten Frau Stabhalterin lesen: “Odermennig gegen Gliederschmerzen” – “Tausendgülden gegen Magenkrebs” – “Katzenschwanz für die Wassersucht”. So ging es weiter mit Huflattich, Schafgarbe, Königskerze und Wegerich -Gott weiss, wie all diese Kräuter heissen mochten. Mit den teebüchsen hatte sich die Kräuterkammer aber nicht erschöpft. Da gab es in Tiegeln und Fläschchen allerlei heilende Salben und Extrakte, von der kundigen Hand der Grossmutter selber hergestellt. Ich nenne nur die Walwurzensalbe für Verstauchungen, das Kerbelwasser für den “sturmen” Kopf, das Johannesöl für jeden innern und äussern Brand, vor allem aber das Allerwelts-Zugpflaster “Eissentod”, welches gebraut wurde aus sieben Weinbergschnecken, sieben Spinnennetzen, sieben Hühnerkegeln und einem Pfund Eberschmalz unnd alljährlich eingesotten werden musste in der Karfreitagnacht.

Und wie immer, wenn die Beschäftigung mit einem Gebiet eine intensive ist und alljährlich geübt wird, verfestigen sich Glaubenssätze zu Regeln, die die Welt bewegen sollen. Die Idee macht sich jene untertan, über die man Macht zu besitzen glaubt. Bis sich diese wehren. Die Listen der Ohnmacht sind dabei vielfältig. Das reicht vom offenen Widerstand der Kinder bis zur listenreichen Akzeptanz des Grossvaters.

Ich muss an einen über achtzigjährigen Bekannten (aus Schaffhausen) denken, der mir gegenüber steif und fest behauptet hatte, sich selbst mehrmals mit der Einnahme von selbstgepflückten und -gebrauten Schwedenkräutern von seinem Krebsleiden geheilt zu haben. Ähnlich auch die Grossmutter in Ruth Blums Roman. Sie verschreibt sich mit Haut und Haaren und der gesamten Familie dem von ihr so genannten “Kardenbenedikt”, das sie anbaut, trocknet und den Familienmitgliedern zur Vorbeugung verabreicht, meist über langgezogene Kurperioden. Es ist die unbestrittene Königin ihrer Apotheke.

Das vornehmste Heilkraut des Hauses war zweifellos der Kardenbenedikt, auch Cardo benedictus oder gesegnete Distel genannt.

Sie half einfach gegen “Alles” und so stand es auch auf dem Etikett des Gefässes, in dem sie aufbewahrt wurde. Mehr als ein Kapitel hat Ruth Blum diesem Kraut und seinen folgenreichen Wirkungen in ihrer Familie gewidmet. Welch traumatische Erfahrung!

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